#Success-Story: Assistenzsysteme unter der Gender-Lupe

Spurassistenten und Abstandhalter gehören mittlerweile zur Serienausstattung der gehobenen PKW-Klasse. Das FEMtech-Forschungsprojekt "GENdrive", das im Rahmen von "Talente" gefördert wurde, hat untersucht, wie solche Fahrzeug-Assistenzsysteme unter realen Bedingungen angenommen werden, und ob es dabei einen Unterschied zwischen Frauen und Männern bzw. den verschiedenen Altersstufen gibt.

Das Grazer COMET-Zentrum Virtual Vehicle Research GmbH untersuchte 2020 gemeinsam mit den Projektpartnern youspi Consulting GmbH und TraffiCon Traffic Consultants GmbH die Akzeptanz von und das Vertrauen in Spurassistenten und Abstandhalter. Insgesamt 100 Probandinnen und Probanden mit gefestigter Fahrerfahrung – 50 Frauen, 49 Männer und eine diverse Person – nahmen hinter dem Steuer eines VW Passat, Baujahr 2018, Platz und legten darin eine ca. 90 km lange Strecke auf der A2 zurück. Alle Teilnehmer hatten davor eine Einschulung in die Systeme erhalten, und es wurde ihnen freigestellt, während der zweiten Hälfte der Fahrt Spurassistenten und Abstandhalter zu aktivieren oder nicht. Währenddessen wurden nicht nur die Fahrzeugdaten erfasst, sondern vor allem die Reaktionen der Fahrerinnen und Fahrer: Über Handgelenks-Manschetten wurden die Handbewegungen am Lenkrad erhoben, ein Brustband zeichnete Atem- und Pulsfrequenzen auf, die Augenbewegungen wurden aufgezeichnet, und die Probanden wurden ermuntert, ihre Eindrücke im Umgang mit den Systemen zu verbalisieren. Vor und nach den Fahrten mussten jeweils Fragebögen ausgefüllt werden.

Grafik: © Trafficon – Traffic Consultants GmbH

Klischee und Wirklichkeit

Auf diese Weise sammelte das Projektteam insgesamt 7 Terrabyte an Daten, die nun nach und nach ausgewertet werden. Das wichtigste Ergebnis vorweg: Das „Frau am Steuer“-Klischee bleibt auch beim halbautomatisierten Fahren ein Klischee. Im echten Leben konnten in Bezug auf die Nutzungsintensität keine signifikanten Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Umgang mit Spurassistent und Abstandhalter ermittelt werden. Unabhängig vom Geschlecht wurden die Assistenzsysteme von den Probanden durchschnittlich zu rund 80 bis 85 Prozent der gesamten Fahrstrecke genutzt.

Wenig Unterschiede zwischen Geschlechtern und Altersgruppen

„Meine Annahme war, dass Männer die Systeme intensiver verwenden als Frauen“, sagt Projektleiter Alexander Stocker. Aber: „Das hat sich so nicht gezeigt.“ Und die Genderexpertin Sibylle Sommer von der Virtual Vehicle Research GmbH ergänzt: „Wir haben die Ergebnisse nicht nur auf mögliche Geschlechterunterschiede hin untersucht, sondern uns auch angeschaut, wie es Älteren und Jüngeren mit solchen Systemen geht. Dabei haben wir im Hinblick auf die Nutzungsintensität festgestellt, dass sich auch hier im Durchschnitt kaum Unterschiede ergaben. “

Der Blick aus dem fahrenden Auto. Foto: (c) GENdrive

Die Probanden im Alter von 24 bis 63 Jahre wurden in drei Altersgruppen eingeteilt. Bei den qualitativen Rückmeldungen – also bei den aufgezeichneten Kommentaren während der Fahrt – zeigte sich, dass ältere Personen (Altersschnitt 58 Jahre) ihre Schwierigkeiten im Umgang mit den Systemen viel offener kommunizierten als die jüngeren Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Sommer: „Das könnte auch daran liegen, dass ältere Menschen weniger Hemmungen haben, zu sagen, was sie stört. Je älter, desto entspannter ist man und desto eher steht man dazu, Schwierigkeiten mit einem technischen System zu haben. In den schriftlichen Feedbacks zu Vertrauen und Akzeptanz gab es allerdings keine signifikanten Unterschiede zwischen den Altersgruppen.“

Großes Interesse der Fahrzeugindustrie

Gerade die qualitativen, mündlichen Rückmeldungen wurden bei den Projektpräsentationen, die man auch vor Vertretern der Fahrzeugindustrie abgehalten hat, sehr interessiert aufgenommen. „Ein spannender Aspekt war, dass wir im Projekt mit den Lenkerinnen und Lenkern eine ausführliche Einschulung zu den Assistenzsystemen gemacht haben – und trotzdem gab es zum Teil große Schwierigkeiten im Umgang damit“, sagt Alexander Stocker. „Da stellt sich schon die Frage: Was für ein Training brauche ich, um diese Systeme so nutzen zu können, dass sich Komfort und Sicherheit durch die Nutzung wirklich erhöhen?“

Pionierstudie für Human-Centered-Design in der Fahrzeugentwicklung

Das Interesse an den Studienergebnissen ist vor allem auch deshalb hoch, weil umfangreiche Feldstudien über die Nutzung moderner Fahrzeugassistenzsysteme eher die Ausnahme als die Regel sind. „Zumeist werden die Systeme mit Probanden üblicherweise in der Simulation, und auch da nur an kleineren Gruppen getestet“, sagt Alexander Stocker. „Insofern war GENdrive für Österreich eine Pionierstudie, die die Tür in Richtung menschzentrierte Evaluierung geöffnet hat.“

Die beiden Arbeitsgruppen „Contextual Information Systems“ und „Human Factors“ beim COMET-Zentrum Virtual Vehicle Research GmbH sind für diesen innovativen Forschungsansatz auf jeden Fall gewappnet. Im April 2021 startet im Rahmen des Förderprogramms „Mobilität der Zukunft“ bereits ein Folgeprojekt. Dabei wird es um das nutzerzentrierte Testen automatisierter Fahrfunktionen gehen.

 

Kontakt:

Alexander Stocker, Projektleiter
Virtual Vehicle Research GmbH
E-Mail: alexander.stocker@v2c2.at
www.v2c2.at